„Die kommt hier nie raus“ – Zwischen professionellem Anspruch und Wirklichkeit: Gedanken zum Umgang mit Menschen mit geistiger Behinderung in der psychotherapeutischen Arbeit
// CAROLIN BURKHARDT
Dieser Beitrag setzt sich aus einer Praxisperspektive mit struktureller Mehrfachdiskriminierung von Menschen mit geistiger Behinderung, ausgehend vom Kontext der forensischen Psychiatrie, auseinander. Menschen mit geistiger Behinderung sind tagtäglich auf individueller und struktureller Ebene mit Diskriminierung in Form von Ableismus bzw. Behindertenfeindlichkeit konfrontiert. Die Diskriminierungserfahrungen beinhalten nicht zuletzt sexualisierte Gewalt. Wenn Menschen aufgrund ihrer Behinderung der Kommunikationsweg durch verbalen Sprachausdruck verhindert ist, kann manchmal Körperlichkeit, z.B. in Form von Wutausbrüchen, ein letzter Weg sein, sich auszudrücken. Landen Menschen mit geistiger Behinderung - aus welchem Grund auch immer - in der forensischen Psychiatrie, enden die Diskriminierungserfahrungen nicht zwangsläufig. Auch dort ist nicht gewährleistet, dass das Personal adäquat auf diese Patient*innengruppe eingeht und für die strukturelle Dimension von Diskriminierung sensibilisiert ist. Das kann dazu führen, dass genau dort, wo Therapie und Hilfe propagiert wird, diese dadurch verhindert wird. Es gibt noch immer zu wenig Hilfsangebote, die für die Belange von Menschen mit geistiger Behinderung angepasst sind – sei es im ambulanten oder stationären psychotherapeutischen Bereich. Auch in der psychotherapeutischen Community ist es verbreitet zu denken, dass man mit dieser Patient*innengruppe keine erfolgversprechende Psychotherapie durchführen kann. Im Rahmen des Beitrags wird anhand eines Fallbeispiels aus der forensischen Psychiatrie aufgezeigt, auf welchen Ebenen Menschen mit geistiger Behinderung Mehrfachdiskriminierung im Klinikalltag ausgesetzt sind. Ebenso wird fokussiert, welche positive Wirkung daraus erwächst, wenn das Fachpersonal für die Diskriminierung sensibilisiert ist. Der Beitrag bietet Raum, gemeinsam über Alternativen und konstruktive Umgangsweisen nachzudenken. Er richtet sich an Praktiker*innen, möchte aber auch Impulse in die Forschung geben.
Suizid machtkritisch verstehen
// KRISTINA SHRANK DERNBACH
Gesellschaftliche und therapeutische Umgänge mit „Suizidalität“ sind in verschiedener Hinsicht an der (Re)Produktion von Unterdrückung beteiligt. Dabei werden Schmerz und Leid sowie deren strukturelle Bedingungen durch Psychopathologisierung individualisiert und durch ihre Absonderung in medizinisch-therapeutische Räume gesellschaftlich unsichtbar gemacht. Dies erschwert es nicht nur, die Verwobenheit von Nichtseinwollen in und mit Unterdrückungsstrukturen zu verstehen. Es behindert auch uns als Gesellschaft, einander in schweren Zeiten unterstützen zu lernen. Aus einer Perspektive epistemischer (Un)Gerechtigkeit (Fricker, 2007) stelle ich Alexandre Barils theoretischen Rahmen zur Analyse der Unterdrückung suizidaler Menschen - Suizidismus - vor. Dabei versuche ich, die Rollen von Ableisierung, Rassifizierung und Citizenship innerhalb der Widersprüchlichkeit der "Anordnung zu leben und zu Zukunft" (Baril, 2018, 2020) sichtbar zu machen, denn diese Anordnung gilt nicht für alle Menschen gleichermaßen. In Bezug auf suizidismussensible Beratung und Therapie schlage ich vor, zunächst deren enge Grenzen zu analysieren, um mögliche emanzipatorische und subversive Potenziale zu erkunden.
Klassendifferenz im psychotherapeutischen Setting: tiefenhermeneutisch gewonnene Erkenntnisse aus Sicht von Patient:innen „der Arbeiter:innenklasse“
// SONJA ZACHARIA
Dass von Klassismus betroffene Menschen in vielen Lebensbereichen benachteiligt sind, spiegelt sich auch im Kontext Psychotherapie wider. Denn trotz erhöhter Prävalenz von psychischen Erkrankungen sind von Klassismus Betroffene weniger in ambulanten Psychotherapien vorzufinden. Diese strukturelle Gegebenheit sowie meine eigene Klassenposition als „halbes Arbeiterkind“ haben mich dazu bewegt, Klasse im Kontext Psychotherapie beleuchten zu wollen. Für mein empirisches Forschungsvorhaben fokussierte ich mich auf die Dyade Mittelklasse- Psychotherapeut:in und Arbeiter:innenklasse-Patient:in und wollte hierzu Menschen befragen, die „der Arbeiter:innenklasse“ zugeordnet werden können und bestenfalls ambulante Psychotherapieerfahrung haben. Klasse operationalisierte ich hierbei mittels der Bildungsabschlüsse meiner Proband:innen sowie deren Eltern, d.h. es sollte kein Hochschulstudium absolviert worden sein. Mein Sample bestand aus drei Personen, mit denen ich problemzentrierte Interviews führte, die ich tiefenhermeneutisch auswertete. Als Ergebnis zeichnete sich ab, dass bei zwei meiner Proband:innen klassenspezifische Kränkungen im Laufe ihrer Biografie oft verspürt wurden, jedoch nicht im Kontakt mit ihren Therapeut:innen. Ich vertrete die These, dass Klassengefühle im Therapiekontext dennoch unbewusst vorhanden waren. Jedoch war eine Auslagerung dieser Gefühle notwendig aufgrund der psychischen Abhängigkeit zu den Therapierenden, um den Therapieraum weiterhin als safer space zu erleben. Meine dritte Probandin hatte ein zu meinem übrigen Sample divergierendes Therapieverständnis. Sie forderte konkrete Tipps und erlebte Therapeut:innen als passiv und wenig hilfreich. Sie verdeutlichte, dass sie von studierten Menschen mehr erwarte, wodurch ein Klassenbezug ersichtlich wurde. Hier zeigte sich, dass vor allem abstinente Therapieformen für Patient:innen in prekären Lebenssituationen kein adäquates Beziehungsangebot bereitstellten.