Möglichkeiten und Grenzen intersektionalitätsinformierter Therapie und Beratung
Hintergrund
Mit dieser Tagung zu intersektionalitätsinformierter Therapie und Beratung möchten wir einen transnationalen Austausch über verschiedene Therapieschulen hinweg im deutschsprachigen Raum anregen. Wir freuen uns über kritisch-konstruktive Einreichungen zu verschiedenen Themen aus der empirischen Forschung, philosophischen Betrachtung und praktischen Erfahrungen zu Intersektionalität und angrenzenden Themen wie Diversity, (Mehrfach-) Diskriminierungen, Privilegienbewusstsein, Empowerment und Coping-Strategien im Zusammenhang mit psychischer Gesundheit und therapeutischer Praxis. Denkbar sind verschiedene Formate: Vorträge, Podiumsgespräche, Workshops, Kurzfilme etc. Geplant ist im Anschluss der Tagung einen Tagungsband herauszugeben für eine größere und nachhaltigere Sichtbarkeit deutschsprachiger intersektionalitätsinformierter Therapie und Beratung.
Einreichungen bitte an therapie-intersektional@riseup.net bis zum 08. Mai 2022 (Titel, Kurzbeschreibung, Kurzbiographie)
Wir versuchen ein Honorar zu ermöglichen.
Mit einem queer-feministischen und postkolonialen Blick wird nicht zuletzt durch soziale Bewegungen sowie durch aktuelle und vergangene Krisen und Kriege deutlich, dass das demokratische Versprechen von Freiheit und Gleichheit auch in der postmigrantischen Gesellschaft in Deutschland längst nicht für alle gilt. Soziale Ungleichheitsverhältnisse mit intersektionalen, über die Zeit und geo-politische Kontexte hinweg veränderliche, Diskriminierungs- und Privilegierungserfahrungen spiegeln sich auf Erlebens-, Denk- und Verhaltensebenen von Personen und Gruppen wider. Deshalb verstehen wir intersektionale Diskriminierungs- und Privilegierungserfahrungen als psychologische Themen, die auch für das therapeutische Setting eine entscheidende Rolle spielen.
Im therapeutischen Setting kann bei ausreichender Sensibilität psychisches Leid, u.a. ausgelöst durch soziale Ungleichheiten, gelindert werden (#Coping Strategien, #affirmative Zeug*innenschaft, #Empowerment, #allyship). Auch kann das therapeutische Setting sowie die therapeutische Ausbildung ein Ort sein, an dem Ungleichheitserfahrungen reproduziert werden – sowohl für Klient*innen als auch Therapeut*innen. Wir schlagen deshalb vor, das Analyseparadigma Intersektionalität aus der Schwarzen Frauenbewegung für Therapie und Beratung weiter auszubauen und aufzufächern für eine Psychotherapie, die der Komplexität von Lebensweisen und Lebensrealitäten gerechter wird sowie eine stete Selbstreflexion und Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse und der eigenen Ver(antw)ortung darin beinhaltet.
Vor allem aus dem englischsprachigen psychologisch-therapeutischen Raum ist schon vielfach belegt, dass Diskriminierungserfahrungen gravierende negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben können (#minority stress model, #microaggressions, #(Re)Traumatisierungen), jedoch – z.B. durch Community Ansätze oder cultural heritage – auch Ressourcen bieten können, die Resilienzen fördern.
Auch im deutschsprachigen Raum tragen vermehrt Forschungsarbeiten – unter anderem von Prof. Dr. Paul Mecheril, Grada Kilomba und Dr. Amma Yeboah oder von Psychosozialberatungen wie LesMigraS – zur Beleuchtung der psychischen Auswirkungen von Diskriminierung sowie diesbezüglicher Forschungs- und Versorgungslücken bei. Im deutschsprachigen Raum wird der Zusammenhang zwischen Intersektionalität und Psychologie/Psychotherapie häufig den Gender Studies, Sozialwissenschaften oder der Pädagogik zugewiesen. Wir möchten mit dieser Tagung deutlich machen, dass intersektionalitätsinformierte Psychotherapie, wie im englischsprachigen Kontext längst Usus, ein klarer Fall für die Psychotherapie und damit auch für die Psychotherapieausbildung ist.
Migrantische, queere Psychosozialberatungen mit spezialisierten Angeboten bemerken seit Jahren, dass sich nur wenige Psychotherapeut*innen mit Mehrfachdiskriminierungen auskennen und ausreichend kritische Positionen einnehmen und dass Psychosozialberatungen an ihre Kapazitätsgrenzen kommen aufgrund der hohen Nachfrage. D.h. wir benötigen dringend mehr intersektionalitätsinformierte Therapeut*innen – unabhängig von den intersektionalen Identitätsdimensionen – die als Verbündete sensibel und selbstkritisch agieren. Außerdem bedarf es intersektionalitätsinformierte Psychotherapieausbildungen, Supervisor*innen und Diagnosemanuale. Selten ist Intersektionalität Thema in hiesiger therapeutischer Ausbildung, sodass Interessierte die Themen entweder selbst einbringen oder auf (teure, zeitaufwändige) Zusatzausbildungen angewiesen sind. Grundlagen sind selbstverständlich wichtige Arbeiten und Handlungsempfehlungen aus der (inter)kulturellen Psychotherapie sowie therapeutische Ratgeber zu einzelnen Dimensionen oder Überschneidungen. Dazu gehören Arbeiten über sexuelle Orientierung in Psychotherapie und Beratung von Magret Göth und Ralph Kohn, psychotherapeutische Arbeit mit trans* Personen von Marie Günther, Gisela Wolf und Kirsten Teren oder Rassismus, Gender und Psychoanalyse aus einer Critical Whiteness-Perspektive von Martina Tißberger. All diese Grundlagen sind Entwürfe, die selbstverständlich kritisiert und mit neuen Lebens- und Arbeitserfahrungen intersektional erweitert werden können.
Viele Studierende und therapeutisch Tätige bilden Initiativen, eigene Lern- und Reflexionsgruppen. Auch vom Wissenschaftsrat wird empfohlen, „Diversität in der Psychotherapie“ und „kultursensitive Psychotherapie“ stärker in der Psychotherapieausbildung zu berücksichtigen. Zudem besagt das neue Psychotherapeut*innengesetz in Deutschland explizit, dass die psychotherapeutische Versorgung „Risiken und Ressourcen, die konkrete Lebenssituation, den sozialen, kulturellen oder religiösen Hintergrund, die sexuelle Orientierung, die jeweilige Lebensphase der Patientinnen und Patienten sowie Kompetenzen zum Erkennen von Anzeichen für sexuelle Gewalt und deren Folgen mit ein[beziehen]“ soll. Auch der Vorstand der Bundespsychotherapeut*innenkammer verpflichtet seine Mitglieder sich regelmäßig „aktiv für Demokratie und die Einhaltung von Menschenrechten einzusetzen: für ein friedvolles Miteinander und gegen Rassismus, Hass, Gewalt und Diskriminierung“.
Wir halten derartige Forderungen und deren Umsetzung für mehr als überfällig – gerade auch in Zeiten der Digitalisierung von Therapie und damit verbundenen Herausforderungen und Chancen in Bezug auf Antidiskriminierung. Mit dieser Tagung zu intersektionalitätsinformierter Therapie und Beratung möchten wir einen transnationalen Austausch über verschiedene Therapieschulen hinweg im deutschsprachigen Raum auf unterschiedlichen Ebenen anregen:
• Institutionelle Ebene: Was muss sich in therapeutischen Institutionen und ihren Instrumenten ändern? Wie können wir dabei unsere Privilegien nutzen, um an Veränderungen mitzuwirken?
• Kompetenzebene von Therapeut*innen, Supervisior*innen, Intervisior*innen: Reflektionskompetenz, Gesprächskompetenz (#privilege awareness, #Zuschreibungsreflexivität, #intersektionale Selbstoffenbarung, …), Wissenskompetenz (#historisches Kontextwissen, #Wissen um diverse Lebensrealitäten, #Wissen um cultural (mis)trust, #Wissen um Präventions- und Interventionsansätze, #Wissen um weiterführende Netzwerke und antidiskriminierende Angebote, #Wissen und Copingstrategien für eigene Vulnerabilitäten, …), Methodenkompetenzen (#Zeug*innenschaft, Validierung von Erfahrungen, #Affirmation, #Empowerment, #Allyship, #Reframing, #Skulpturarbeit, #Ressourcenorientiertheit, #intersektionalitätsinformierte Anamnese und Psychoedukation, # Umgang mit verinnerlichter Unterdrückung, #Umgang mit Dolmetschenden …), Haltung / Menschenbild
• Kritikebene – Kritik an intersektionalitätsinformierter Therapie und Beratung? (#Zugangsbeschränkungen, #akademischer Elfenbeinturm, #Interdependenzen und Begriffsweiterentwicklungen, #Mainstreaming-Policies, #Analyse-Paradigma in der Praxis)